01.02.2023
A Room of One's Own – or a House for the Many? Queer-feministische Revisionen des Künstler*innenhauses
Zusammenfassung eines Vortrags von Petra Lange-Berndt
Europäische Künstler*innenhäuser verweisen auf zahlreiche Inszenierungsstrategien und Mythen. So werden Ateliers, die sich in diesen Architekturen finden, seit 1800 häufig in der Tradition der sogenannten romantischen Zelle als Sonderorte definiert, also als Räume, die sich außerhalb gesellschaftlicher Prozesse situieren. Zudem sind diese Produktionsorte eng mit einem meist männlichen Künstlersubjekt verbunden: Künstler*innenhäuser können als gebaute Biografien, verräumlichte Selbstporträts oder auratische Bühnen für den gesellschaftlichen Auftritt gedeutet werden. Aufgrund dieser spezifischen Geschichte haben feministisch und queer motivierte Künstler*innen Werkstätten analysiert, kommentiert und in Bewegung versetzt.
Im Dezember 1963 eröffnete beispielsweise Carolee Schneemann eine Privatausstellung in ihrem New Yorker Atelier: Für die Performance Eye Body präsentiert sie inmitten neuer Arbeiten ihren nackten Körper. Die Künstlerin präsentiert ihr Atelier in europäischer Tradition als sowohl magischen als auch sexuell aufgeladenen und intimen Raum außerhalb gesellschaftlicher Konventionen. Sie gewährte zu Eye Body nur einem einzigen Besucher Zutritt – dem isländischen Pop art-Künstler Erró, der unter ihrer Regie insgesamt 36 schwarz-weiße Fotografien des Ereignisses anfertigte. Im Mittelpunkt dieser Aktion steht eine Serie von Transformationen; Schneemann tritt gleichzeitig als Künstlerin, Aktmodell und Farbträgerin auf. Sie führt vor, wie das in Atelierdarstellungen seit Jahrhunderten zum Ausdruck gebrachte Geschlechterverhältnis von männlichem Künstler und weiblichem Aktmodell nachhaltig die Vorstellung vom Atelier prägte. Obwohl sie die tradierten Posen europäischer wie amerikanischer Malerheroen für sich reklamiert, nutzt sie Errós fotografische Inszenierung und den Abdruck der Bilder im imaginären Museum der Ausstellungskataloge, um für ein verändertes Kunstverständnis und eine Abkehr vom Geniekult zu werben. So thematisiert Eye Body die Präsentation eines Arbeitsprozesses und die performative Abfolge diverser Metamorphosen. In diese anhaltenden Veränderungen bezieht die Künstlerin neben ihrem Körper ihre Werkstätte ausdrücklich mit ein. Durch das Abhandenkommen eines traditionellen Porträts, durch die Rücknahme der hiermit verbundenen Spielart eines bürgerlich-feudalen Künstlerinnensubjekts treten die eingesetzten Materialien sowie die ehemalige Nutzung des Arbeitsraums als Bedeutungsträgerinnen in den Vordergrund. Arbeitsräume werden nicht länger als neutrale Container oder Hüllen vorgestellt, die sich den jeweiligen Künstler*innen unterwerfen, sondern ihre Geschichte wird sichtbar und modelliert die jeweils in ihnen verrichtete Arbeit.
Annette Messager betrieb ebenfalls eine Atelierkritik, wählte in Paris um 1970 jedoch ein differentes Vorgehen. Im Rahmen der Installation Les pensionnaires (Die Internatsschüler, 1971–1972) entstand eine Handzeichnung ihrer Wohnung, die das Raumkonzept der Künstlerin aus der Vogelperspektive visualisiert. Der obere Bildteil zeigt das Schlafzimmer, einen Raum, dem über eine Legende drei Arbeiten zugewiesen werden, die sich mit dem „Ordnen und Aufbewahren der Sammlungen“ beschäftigen; Küche und Bad bilden den Übergang zum unteren Zimmer, dem eigentlichen Atelier, ein Wohnzimmer, das fünf weitere Arbeiten beherbergt. Aufgerufen wird die Tradition der Dilettantin, deren häusliche Kunstproduktion nicht als beruflich ambitioniert, sondern als erwerbsloser Müßiggang angesehen wurde und in Ermangelung eines eigenen Ateliers im eigenen Heim stattfand. Diesem Ort sowie der mit ihm verbundenen Sozialgeschichte der Hausfrau gilt Annette Messagers ausdrückliches Interesse, und auf diesem Weg entmystifiziert sie den Sonderort Atelier. Darüber hinaus wird kein physischer Raum kartografiert, sondern dieser Produktionsort ist als mentaler Raum zu verstehen, welcher der Markierung eines gesellschaftlichen Kontexts sowie der Öffnung eines Erzählraums dient. Messager begnügt sich in Anlehnung an Virginia Woolfs berühmten Essay von 1929 nicht mit einem „Room for One’s Own“, sondern räumt mit dem romantischen Mythos des oder der isoliert im Atelier Schaffenden auf – sie erklärte sich zu einer multiplen Persönlichkeit und führt unterschiedliche Arbeiten etwa als „Sammlerin“, „praktische Hausfrau“ oder „Künstlerin“ aus. Federn spielen hierbei die entscheidende Rolle. Messager knüpft an historisch weiblich konnotierte Ressourcen und Möglichkeiten an, die auf den Haushalt verweisen: Denn die Federn stammen aus Kissenfüllungen und Staubwedeln. Die Atelierzeichnung ist in eine Geschichte eingebunden, die von einer Pension berichtet, in der die Künstlerin zahlreiche Vögel beherbergt. Dementsprechend sind in ihrem Atelier sowie ihrer PensionSpatzen zu Hause; die Arbeiten zeigen in unterschiedlichen Stadien präparierte Tierkörper. Und auf diesem Weg entstand im Wohnzimmer ein eigenes Naturkundemuseum mit alternativen Präparaten, also eine neue wie selbstbestimmte Natur.
Anstatt vorzugeben, den Produktionsort des Ateliers zu verlassen, definieren sowohl Messager als auch Schneemann die Werkstatt nicht als architektonischen Raum mit dokumentarischem Anspruch, sondern vielmehr als konzeptuellen wie spatialen Ausdruck einer künstlerischen Methode. Beide definieren „Atelier“ im Sinne von Daniel Burens Institutionskritik als „Rahmen, Einfassung, Sockel, Schloss, Kirche, Galerie, Museum“, aber ausdrücklich auch als „Macht, Kunstgeschichte, Ökonomie, Markt“ – also sowohl als Arbeitsstätte, Erzählraum sowie gesellschaftlichen Kontext. Während traditionelle Atelierräume weiter existieren, findet sich gegenwärtig eine Vielfalt von Produktionszusammenhängen und -orten. Aus der Perspektive eines New Institutionalism stehen mit Werkstätten auch die Räume der Institutionen zur Disposition, in denen Kunst ausgestellt wird und somit überhaupt von Öffentlichkeiten wahrgenommen werden kann. Dabei sehen neben dem Geschlechterdualismus, der die historische Konstellation und ihre Kritik kennzeichnet, auch weitere mit dem Atelier verbundene Hierarchien – etwa Eurozentrismus und whiteness – zur Disposition.
Was das für eine gegenwärtige künstlerische Praxis bedeuten kann, hat Sonia Boyce in einer komplexen Arbeit erkundet. Six Acts fand im März 2018 in der Manchester Art Gallery statt und war Teil einer Serie von Gallery Takeovers, welche den Auftakt für eine Solo-Ausstellung der Künstlerin bildete. Die Institution wurde für einige Monate zum Arbeitsplatz von Boyce; Ausgangspunkt war die Geschichte des Museums. Am 4. April 1913 hatten drei Suffragetten – Lilian Forrester, Annie Briggs und Evelyn Manesta – aus Protest die Schutzgläser einiger präraffaelitischer und viktorianischer Gemälde zerschlagen; die Aktion fand in Solidarität mit Emily Pankhurst und Forderungen nach Wahlrecht statt. Six Acts ist ebenfalls als Institutionskritik zu verstehen. Am Anfang der Arbeit von Boyce standen ausführliche Gespräche mit allen Mitarbeiterinnen sowie Besucherinnen des Museums. Es wurden Gemälde identifiziert, die im Rahmen von Six Acts durch Drag Performer*innen aus Manchester weiter befragt wurden: Beispielsweise Lasana Shabazz interagierte mit James Northcotes Othello, the Moor of Venice aus dem Jahr 1826, ein Porträt aus der Gründungszeit der Institution, welches den Schwarzen Theaterschauspieler Ira Aldridge darstellt. Schließlich wurde das Gemälde Hylas und die Nymphen von John William Waterhouse aus dem Jahr 1896 im Sechsten Akt abgehängt und eine Woche lang ins Archiv verbannt – das Werk zeigt minderjährige Mädchen in einem See und ist mit Verweisen auf sexuelle Verfügbarkeit und sogenannte Nymphomanie und Hysterie ausgestattet. Am Ende der Performance überführte Sonia Boyce Six Acts in eine Installation. Diese Arbeit löst das Atelier als Raum für eine einzelne Künstlerin in eine kollektive Aktion auf, Geschehnisse, die auf eine öffentliche Diskussion abzielen und die Rahmenbedingungen und Rezeptionsweisen von ‚Kunst‘ öffentlich machen. Es ist nicht ein einzelner Körper, der einen Raum aufspannt, oder ein Subjekt, dass sich in eine multiple Persönlichkeit verwandelt, sondern eine Gruppe Gleichgesinnter, die eine kritische Öffentlichkeit erschafft. Queer bedeutet in diesem Zusammenhang neben der Einbeziehung von Drag Performerinnen und der Störung der historisch gewachsenen Konventionen in einem Museum auch, die Prozessualität und Performativität von Identität und Atelierräumen zu betonen und die Hoffnung zu formulieren, dass diese Kategorien nicht fixierbar sind, sondern instabil und komplex, multipel, plural und vielschichtig. Dementsprechend existieren für Boyce parallel mehrere Versionen von dem, was als Atelier fungiert: Büros, Ausstellungsräume, Hotelzimmer, ihr reguläres Atelier, die Arbeitsräume aller Mitarbeiterinnen, das Internet. In diesen multiplen Räumen geht es nicht um die Produktion von Objekten, sondern um die Arbeit an und mit historischen Dingen in sozialen Räumen, um eine Reorganisation und Diskursproduktion – und vor allem um eine Postproduktion. Six Acts verweist darauf, dass erst ein Gefüge von Materialien, Dingen, Praktiken, Institutionen, Diskursen und Identitäten historisch lokalisierbare Wissensräume aufspannt – nur raumkonstitutive Praktiken und Prozesse, die all diese Faktoren berücksichtigen, haben eine Chance, die tradierte Ordnung des Topos Atelier effektiv aufzukündigen.
In diesem Sinne könnte ein gegenwärtiges Künstler*innenhaus eventuell als aktives Archiv all dieser Möglichkeiten verstanden werden, als Ort, an dem Alternativen und Möglichkeiten gesammelt, gepflegt und zugänglich gemacht, aber auch attackiert, weiter bearbeitet, gedreht und gewendet werden. Vielleicht wäre ein mögliches Ziel eine immer wieder erneut ansetzende Befragung des Kunstsystems, eine anhaltende kollektive Diskussion von Beispielen in jeweils eigenen Sprachen. Diese anhaltenden Debatten besitzen keinen authentischen Ort, sondern verorten sich stets aufs Neue. Es geht eben um die Wandelbarkeit der Funktionalität der Dinge, der Geschichten, der Produktionszusammenhänge und der Institutionen. Was genau das bedeutet, das können wir nur gemeinsam herausfinden.
Weiterführende Literatur:
Petra Lange-Berndt: „Besetzen, abwandern, auflösen ... Die Aufkündigung des Ateliers bei Carolee Schneemann und Annette Messager“, in: Michael Diers / Monika Wagner (Hg.): Topos Atelier. Werkstatt und Wissensform, Berlin: Akademie Verlag 2009, S. 75–92
Dies.: Animal Art. Präparierte Tierkörper in der Kunst, 1850–2000, München: Verlag Silke Schreiber 2009.
Dies.: „Occupy, Migrate, Disintegrate … Carolee Schneemann and Annette Messager’s Studio Abandonment“ (2010), in: Friederike Sigler (Hg.): Work: Documents of Contemporary Art, London, Cambridge Mass.: MIT Press, 2017, S. 221–222
Daniel Buren: „Funktion des Ateliers“ (1970–1971), in: Ders.: Achtung! Texte 1967–1991, hg. von Gerti Fietzek / Gudrun Inboden, Dresden, Basel, 1995, S. 152–167
