Ein Hotel im alten Westen Berlins, das gegenüber vom Delphi-Filmpalast auf seine Renovierung wartet. Dort fotografierte Nan Goldin 1993 Amanda im Kaltwasserbecken. Goldin machte auch das Autorinnenfoto für den ersten Roman der New Yorker Autorin Lynne Tillman Haunted Houses (1987). Es sind diese Verschränkungen von Zeitlichkeit, Zufall und Realitätsebenen, die die Kunstwissenschaftlerin Isabel Mehl in ihrer Auseinandersetzung mit Tillmans fiktiver Kunstkritikerin Madame Realism faszinieren.
Madame Realism ist eine Figur, die von der US-amerikanischen Schriftstellerin und Kulturkritikerin Lynne Tillman (*1947 in Woodmere, Long Island) erschaffen wurde. Seit dem ersten öffentlichen Auftritt dieser fiktiven Kunstkritikerin 1986 in der Zeitschrift Art in America, erschienen 17 weitere Madame Realism Geschichten. Als Protagonistin der Geschichten driftet Madame Realism zwischen Fakt und Fiktion, zwischen New York und Umwelt, ihrer Wohnung im East Village und der sie umgebenden Großstadt, zwischen Kunstwerken und Kontexten, Gesellschaft und ihren Randgebieten, Repräsentation und dem Nicht-Repräsentierten. Sie ist eine Agentin des Zweifels, der stetigen Bewegung zwischen möglichen Standpunkten. Inmitten von Selbstreflexion, Reizüberflutung und männlich dominierter Kunstwelt lotet Madame Realism neu aus, welche Position ein schauendes und schreibendes Subjekt einnehmen kann. Wer erkennt sich in der Kunst wieder, und warum? Die Frage nach der Repräsentation, die Madame Realism aufwirft und der sie nachgeht, hat an Gegenwärtigkeit nichts eingebüßt.
Isabel Mehl untersucht das Wechselspiel zwischen Kritik und Imagination in den Madame Realism-Geschichten und zeigt, was es bedeutet, Fiktion als kritische Form des Denkens zu praktizieren. In einer fragmentarischen Lesung aus ihrem Buch „Im Zeichen des Zweifel(n)s. Madame Realism oder: Die Funktion der Fiktion in der Kunstkritik“ (2022) spürt sie gemeinsam mit der Künstlerin Alina Schmuch einigen Fährten des Textes nach.