09.08.2022
Boogie Intimacy
Mason Leaver-Yap
Die Texte anderer Leute laut zu lesen, fühlt sich gut an. Die Gedanken einer Person in einem fremden Mund herumschwirren zu lassen, zu hören, wie sie in einer anderen Geschwindigkeit herauskommen – das Gewicht einer anderen Zunge lastet schwerer oder verweilt länger auf einem Wort als eigentlich beabsichtigt, setzt den Akzent neu. Unsere Münder müssen nicht wissen, wie man buchstabiert, sondern nur, wie man den Atem durch die Lippen schiebt – „L“, „Elle“, „El“.
Rituelle Sprachen (wie Gebete, wie Lieder) kennen die Vorzüge dieser Zusammenkunft, sie streben nach einer Vermischung ihrer Worte mit unseren Geschichten (histories) und Körpern, indem sie vergangene Sprachfragmente mit einem oralen Ich vermengen. Auf diesem Weg entstehen Verbreitung, Zirkulation und Übertragung. Der Reim sucht sich sein Denkmal, denn er strebt nach Wiederholung, will willige Wirte finden, die seine Struktur nachbilden. Und doch sind wir dem Original nie ganz treu. Wir wiederholen, proben, erkennen immer wieder unsere eigenen Haltungen, Gesten, Atemmuster. So durchströmen uns Einflüsse, die uns unausweichlich mit vergangenen Beschwörungsformeln verbinden. In unserem Wunsch, mit der alten Sprache zu leben, verwandeln wir sie, verunstalten sie durch unsere Erinnerung und arbeiten uns durch die eigenen Ungenauigkeiten hindurch in einen Akt additiver Schaffensweise.
(Anne Carson übersetzt Sapphos Fragmente: „Someone will remember us / I say / even in another time.“ Ich höre in ihren Worten den Wunsch und den Stolz, aber auch die Zweifel und die Verzweiflung in den Pausen. Beides kann wahr sein. Sprich mir nach, sagt die Dichterin, in der Hoffnung auf ein Echo, das in den Lücken lauert.)
*
Mein/e Freund:in Evan schickt mir während unserer gemeinsamen Arbeit an einer Performance in einer Berliner Kellerkneipe Jean Fishers Essay „Reflections on Echo“. Ich lese ihn und mache ein paar Notizen, die ich Evan schicke: „Das Echo ist ein Nebenprodukt des Klangs und damit der Anwesenheit (oder der gewesenen Anwesenheit) und die formale Wiederholung des Inhalts. Ein Rhythmus in räumlicher und klanglicher Verflechtung mit der Zeit. Einst verkörpert und nun entkörperlicht, wird es zum strukturgebenden Relais zwischen Sender:innen und Empfänger:innen, Sprecher:innen und Zuhörer:innen. Selbst ein wiederholtes Schweigen ist ein Echo des Unausgesprochenen“.
Über ein Jahr später befinde ich mich im selben Keller und arbeite an einer weiteren Performance, diesmal mit Jimmy. Wir hören uns eine Aufnahme an, auf der Ian Jessica Mitfords Essay „Behind the Formaldehyde Curtain“ aus ihrem 1963 erschienenen Buch The American Way of Death laut vorliest. Ian hat ihn, um ihn mit Jimmy zu teilen und zu diskutieren, auf eine CD-R aufgenommen. In die Pausen zwischen Ians abgehackten Betonungen dringen Straßengeräusche aus dem Hintergrund. Die Aufnahme hat einen leicht metallischen Klang, ein Klappern, möglicherweise der Unterton seiner Stimme. Jimmy und ich spekulieren, ob die Aufnahme in einer Küche mit offenen Fenstern gemacht wurde. Am Ende höre ich, wie das Mikrofon das echoartige Klicken von Ians Maus aufzeichnet, als er auf Stopp drückt.
Jimmy möchte die CD am Anfang der Performance abspielen, um der Bar den Anschein eines Sexclubs zu verleihen. Er schlägt vor, die Beleuchtung durch rote Glühbirnen zu ersetzen und Poppers-Flaschen auf dem Betonboden auszuschütten. Am Eröffnungsabend übertreibe ich und schütte zu viel und zu früh aus. Ich vergesse, dass das Publikum noch Zeit braucht, um die Treppe vom Innenhof in den Keller hinunterzusteigen, und so stehen die beiden Aufsichtspersonen und ich uns warm schunkelnd unten in einer großen Pfütze aus Amylnitrat und warten. Mein Mitbewohner Jim sagt, der Geruch von Lederreiniger habe einen Hauch von Leichenschauhaus. Er erzählt, wie er vom Fußboden aufschaute und die Leute im dunklen Keller versammelt sah, schemenhafte Gesichter in einer Gruft. Alle schweigen, hören zu, atmen den Dunst des anderen ein – die Wärme der Körper lässt die Poppers verdampfen, das Publikum performt füreinander.
Am Ende von Ians Lesung möchte Jimmy, dass das Publikum in die Haupthalle im Obergeschoss hinaufgeht. Sie ist in weißes Licht getaucht, das in ein dunkles Blau übergeht. Dieser Farbübergang hat etwas Beunruhigendes an sich. Ich denke an die strahlenden Zähne und Schuppen auf einer Tanzfläche mit Schwarzlicht und an die UV-Lichter in innerstädtischen Busbahnhöfen, in der Gegend, in der ich in den 1990er-Jahren aufgewachsen bin – so beleuchtet, dass die Adern nicht zu finden sind. (Wie furchtbar, ein Licht zu entwickeln, das schutzlose Menschen absichtlich in die Dunkelheit schickt.) Aber das Blau in der Halle ist satter – gequetscht; es wird durch eine Nebelmaschine gedämpft, die die Halle wie ein Geheimnis erscheinen lässt. Die aufsteigenden Wolken fauchen zu Ains hämmerndem Remix von Diana Ross‘ Love Hangover, die Texturen schmiegen sich an die Versammlung weicher Körper an, der Nebel macht alle zu geisterhaften Erscheinungen – eine Gruppe, die sich aufgelöst hat. Der Rauch verzieht sich, und Jimmy taucht wieder auf, zündet sich eine Kippe an und rezitiert beiläufig Grace Jones, beschwört sie herauf als Ikone, als Blauschwarz in Schwarz auf Braun, als Nightclubbing von 1981.
(John Berger beschreibt die Zigarettenzeit liebevoll als Klammer: „Wenn sie geteilt wird, befinden sich beide in dieser Klammer. Es ist wie ein Proszeniumsbogen für einen Dialog.“ Jimmy nennt es eine Pause: „Aber durch die die Geste werden die Leute aufmerksam. Ich meine, es ist Rauch, es ist im Grunde nichts. Aber wenn man ihn gegen das Licht hält, wird er sichtbar.“)
*
Boogie intimacy, so nennt Douglas Crimp den Moment, wenn man mit einem Fremden auf der Tanzfläche ist. „Es ist keine Paarsache“, betont er, diese „Vereinigung im Moment der geteilten Freude“ – Blicke, Aufforderungen, Spiegelungen, seltsames Füreinander-Performen; spontan austesten, wie die Körper für die Dauer eines Liedes oder einer ganzen Nacht zusammenpassen könnten. Crimp glaubte, dass die boogie intimacy weit über das Angehen der Lichter hinausreichte; sie war ein radikaler Vorläufer der Schwulen- und Lesbenbewegung, „die Ausweitung von Möglichkeiten des Begehrens“. Ich will den Spaß nicht aus dem Dancefloor heraustheoretisieren, als würde ich Schweiß aus einem trockenen Hemd auswringen wollen, aber mir ist bewusst, dass die Bereitschaft, sinnliche Zusammenkünfte zu entwerfen, eine Probe für andere gemeinsame Aktionen sein kann – für Solidarität und Experimente in unterschiedlichen Umgebungen.
Jimmy, Ain und Em erinnern sich an all die Clubs, in denen sie sich früher getroffen haben, und daran, wie durch die Inbesitznahme dieser Orte und deren Mitgestaltung ihre Freundschaft entstand. In diesem Gespräch schwingt eine gewisse Nostalgie mit, denn es findet in einer Zeit statt, in der es Lockdowns anstelle von Clubs gibt. Em beschreibt, wie die Organisation von Clubs als Startpunkt für die Entwicklung von größeren Hilfsstrukturen und die Mitwirkung in ihnen dienen kann: Beides hat die Eigenschaft, Verhältnisse zu bilden, aus denen physische und emotionale Räume für selbstorganisierte Aktionen hervorgehen können. Beides verweigert sich der Isolation. Em erwähnt einige Club-Crews, die sich in der Anfangsphase der Pandemie von laufenden Clubs in laufende Fürsorgegemeinschaften verwandelt haben.
Es ist jedoch nicht alles Utopie. Ethos und Ort befinden sich nicht immer im Einklang, und die Schlange vor einem Club hat ihre eigene Haltung. Jimmy spricht mit mir über den Türsteher als Grenzbereich zwischen verschiedenen Welten und unterschiedlichen Autoritäten. Die Sicherheit eines Gebäudes, einer Menschenmenge und wer jeweils hineingelassen wird, wer auf der Liste steht, warum wir die Dunkelheit überhaupt brauchen – das sind Fragen mit Antworten, die das Leben unterteilen und strukturieren, genau wie auch die Zugehörigkeiten.
Ich fühle mich an Ems Ausführungen darüber erinnert, was es bedeutet, durch Kunst einen sozialen Raum zu schaffen, und an die Weigerung, zwischen Autorschaft und Kollaboration zu unterscheiden: „Es gibt keine Notwendigkeit zu wissen, was genau wir tun werden, aber die Bereitwilligkeit, es, wenn wir den Mut aufbringen, zuzulassen. In diesem Sinne könnte man sagen, dass dieses Denken dem anarchistischen oder nicht-autoritären sozialistischen Denken und Organisieren nahesteht. Es geht um die Neugier und Bereitschaft, Ressourcen und Wissen zu teilen und die Erfahrung der gemeinsamen Organisation zu machen, wobei der Prozess ebenso im Vordergrund steht wie das Endziel“, sagt Em. „Kollaboration ist immer schon eine Abhängigkeit in Bezug auf soziale Beziehungen und Objekte oder Materialität, Technologien usw. Ich würde also nicht so sehr unterscheiden, ob ich kollaboriere oder nicht, sondern sagen, dass es immer schon eine Kollaboration ist, zu leben.“
*
Im Sommer nach Jimmys Performance machen Em und ich eine Arbeitspause, um vor dem Büro eines Kunstmagazins zu protestieren, das eine öffentliche Podiumsdiskussion zum Thema „Cancel Culture“ veranstaltet, dem Thema seiner neuesten Ausgabe. Die Diskussionsteilnehmer:innen scheinen sehr daran interessiert zu sein, ihren selbst erklärten Opferstatus in einem institutionellen Rahmen auszustellen, und der Verlag ist dazu bereit, zur Feier der neuen Ausgabe die Plattform dafür zu bieten. Ich frage mich, ob der Protest nur von uns beiden ausgehen wird. Auf jeden Fall bin ich bei meiner Ankunft überrascht, wie gut die Veranstaltung besucht ist und wie viele unserer Freund:innen und Kolleg:innen im Publikum sind. Ihr Erscheinen ist nicht spontan, sie haben sich im Voraus angemeldet.
Doch auch eine Reihe anderer Leute, die ich nicht kenne, sind wie wir unangekündigt zum Protest gekommen, und wir beginnen, eine Mahnwache zu bilden. Wir sprechen abwechselnd mit dem ankommenden Publikum, halten sie auf der Treppe zwischen der Straße und den Türen zum Büro auf und verzögern den Fortgang der Warteschlange. Wir beginnen Gespräche darüber, warum die Besucher:innen an diesem Diskurs teilnehmen wollen, ob man stattdessen andere Dialoge führen könnte und welche Machtposition sie in dieser Dynamik einnehmen. Wir stellen einander die Frage, welche Wege es gibt, die Welt so zu gestalten, wie wir sie uns wünschen. Wir fordern zu Gesprächsformen über Solidarität auf, die einen Diskurs über Mangel und Bestrafung unterbrechen könnten. Ich stelle fest, dass unsere Dialoge an Tiefe und Länge zunehmen, je weiter wir uns in der Reihe der Teilnehmend*en nach hinten arbeiten und selber lernen, präzisere Fragen zu stellen, vielleicht besser zuzuhören, Fragen zu verfolgen und zu widersprechen. Wir haben diverse Printouts mit verschiedenen Links und Informationen zusammengestellt, die wir an die Anwesenden verteilen. Danach gehen Em und ich in eine Kneipe, um uns zu entspannen und die Texte der anderen Protestierenden durchzulesen.
Bei der Zusammenarbeit geht es um den gemeinsamen Raum, Annie Dillard aber möchte über den Raum dazwischen sprechen. Sie sagt, dass die Lücken das Entscheidende sind: „Go up into the gaps. If you can find them; they shift and vanish too. Stalk the gaps. Squeak into a gap in the soil, turn, and unlock—more than a maple—a universe. This is how you spend this afternoon, and tomorrow morning, and tomorrow afternoon. Spend the afternoon. You can’t take it with you“. *
Ich frage mich, wie die Lücken klingen und wie man auf sie achten kann: die Schwelle zwischen dem, was wir denken, und dem, was wir sagen; das unbeholfene Stocken oder das unerträgliche Warten zwischen dem Ruf und der Antwort; das Hervorspringen der Geschichten, die wir einander erzählen, und ihr Zögern, das, was wir aus Angst vor Hässlichkeit und Zurückweisung weglassen. Manchmal brauche ich andere Menschen, die mich auf die Lücken hinweisen, die mir zeigen, wie diese stillen Bereiche die lauteren Teile strukturieren.
*
* „Geh rein in die Lücken. Wenn du sie finden kannst; sie verschieben sich und verschwinden. Verfolge die Lücken. Krieche in eine Lücke in der Erde, drehe dich um und brich auf – wie ein Ahorn, wie das Universum. Verbring so den heutigen Nachmittag, den nächsten Morgen, den nächsten Nachmittag. Nutze den Nachmittag. Du kannst ihn nicht mitnehmen.“