Henrik Nieratschker untersucht in seiner Arbeit Geschichtung 1: Am Deich 68-69 Bremen die Parallelen zwischen der künstlerischen, gewerblichen, freien und angestellten Arbeit, die unter dem Dach des Hauses des Künstlerhauses Bremen verrichtet wurde. Er führt die jetzige Funktion als Künstlerhaus mit den vorherigen Nutzungen des Gebäudes beispielweise als Gewürz- und Holzhandel in einer autofiktiven Narration zusammen. Die Texte mit den Titeln „Loading Dock / Laderampe“ „Restaurant/Basement / Restaurant/Keller“ „Attic / Unterm Dach“ und Gallery / Galerie“, sind Narrationen, in denen Nieratschker verschiedene zeitliche Ebenen aus der Geschichte des Künstlerhauses miteinander verwebt. In den vier Geschichten entsteht ein komplexes zeitenübergreifendes Narrativ der Nutzung des Gebäudes, welches Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenflicht.
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„Wir schätzen uns glücklich, R/i/n in unserem Gastatelier diesen Sommer 2031 begrüßen zu dürfen. In den nächsten 2 Monaten werden sie alle Arbeit in diesem Haus dokumentieren …”
Laderampe
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R/i/n saßen am vorderen Ende der Laderampe, ließen ihre Füße entspannt baumeln und scannten den Hof mit wachsamen Augen. Der Truck setzte gerade langsam in Richtung Rampe zurück.
Die Tür hinter R/i/n stand weit offen und sie konnten K/e/ns schweren Atem hören, als sie Boxen mit verschiedenen Gewürzen auf eine kleine Holzpalette stapelten, die jeden Moment in den Truck geladen werden sollte. R/i/n drehten sich kurz zu K/e/n um und blickten dann wieder auf die digitale Zeichnung in ihren mit Tinte befleckten Händen.
Der permeable Bildschirm zeigte einen detaillierten Sketch der K/e/n beim Bedienen der Kreissäge, die nun halb hinter dem wachsenden Turm von Gewürzverpackungen verschwand, abbildete. Auf dem Bild lehnten sie sich angestrengt nach vorne, ihre Fingerspitzen und Augen ruhten konzentriert auf dem Stück Ahornholz, das jeden Moment das Sägeblatt berühren würde. Ihr gesamter Körper war erwartungsvoll angespannt.
Beim Beladen der Palette war ihre Körperhaltung eine ganz andere. Der gesamte Körper wirkte zögerlich, nicht bereit, obwohl ihre Muskeln unter dem Gewicht einiger Kartons in ihren rauen Händen stark angespannt waren.
20 Minuten später, R/i/n hatten bereits mit einer zweiten Zeichnung begonnen, die K/e/n beim Tragen der Pakete zeigte, fuhr der voll beladene Truck durch das enge Tor des Innenhofs. K/e/n standen auf der Laderampe, beugten sich zu R/i/n herunter und sagten: „Lass uns Feierabend machen! Lust auf ’nen Drink? Ich zeig dir, was ich gerade reinbekommen habe.”
Sie gingen rein, ohne eine Antwort abzuwarten, und zogen eine Flasche aus dem Weinregal hinter der Kreissäge, das eigentlich nur den exklusivsten Kunden vorbehalten war.
„Einer von zwei superseltenen Weinen. Ein skandinavischer Schaumwein von 2027.”
K/e/n öffneten die Flasche und ging zurück zur Laderampe, zwei Sektgläser waren zwischen die filigranen Knöchel ihrer anderen Hand gequetscht. Sie setzten sich neben R/i/n und seufzten: „Wenn ich die nicht immer selber trinken würde, müsste ich vielleicht diese beschissene Lagerarbeit nicht mehr machen.”
Restaurant / Keller
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R/i/n versuchten die Tinte daran zu hindern, noch weiter aus der Druckerpresse auszulaufen. „Fuck!” Farbige Flüssigkeiten, blau-grün, cyan, türkis, mint, aquamarin, trieften überall heraus, saugten sich in das sowieso schon vollgesogene Papier.
Es war ziemlich nett von R/e/k, die die Druckerei während der üblichen Geschäftszeiten betrieben, R/i/n mit dem Druck der wenigen gelungenen Zeichnungen und Fotografien von Büro-, Holz-, Kunst-, Rechen-, Lager-, Gastro- und all der anderen Arbeiten, die sie bisher im Gebäude gesammelt hatten, experimentieren zu lassen. Aber so, wie es gerade lief, so befürchteten R/i/n, würde dies wohl das erste und letzte Mal sein.
Sie versuchten das Gekicher von den Schreibtischen hinter ihnen zu ignorieren, wo Auszubildende der Wood Trading Company (zu der auch diese Druckerei gehörte) den Firmennewsletter in Umschläge steckten, die sie dann mithilfe eines kleinen feuchten Schwammes zuklebten.
Sie versuchten auch das Schlürfen und Schlabbern an den Tischen hinter der Druckerpresse zu ignorieren, wo die Kund*innen des Restaurants ihr edles Dinner genossen.
Immer mal wieder tauchten Auszubildende oder Bedienungen aus der Bar im Keller oder der Küche auf der anderen Seite auf und quetschten sich, Tabletts mit überschwappenden Gläsern balancierend, an der Druckerpresse vorbei. Jedes Mal, wenn die Tür in Richtung Treppe aufging, stieg ein Schwall von Stimmen aus der Bar herauf, wo das Angestellten-Kartenturnier in vollem Gange war, und störte R/i/ns Konzentration. Das war alles echt ein bisschen too much.
R/i/n beschlossen, ihr Druckexperiment abzubrechen. Mit tropfenden Händen verließen sie den Raum, gingen durchs Treppenhaus, nicht hinunter zur Bar, sondern raus aus dem Gebäude, zum Fluss, eine farbige, flüssige Spur hinter ihnen herziehend.
Unterm Dach
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R/i/n beobachte H/i/r gedankenverloren, während sie die nächste Berechnung des gigantischen Computers, der den Großteil des Raumes unter dem Schrägdach des Hauses einnahm, programmierten. Es war H/i/rs Job, alle Einnahmen und Ausgaben der Wood Trading Company zu dokumentieren. Die Bilanzen lagerten in dem großen, mit Lochkarten gefüllten Kabinettschrank an der hinteren Wand des Raumes. Die Frontseite dieses handwerklich meisterhaften Möbelstücks war mit Intarsien aus goldbraunem Irokoholz verziert, die durch unterschiedliche Schattierungen eine Weltkarte abbildeten – ein Überbleibsel der fragwürdigen Kolonialgeschichte des Unternehmens. R/i/n hatten einen nicht unerheblichen Teil der letzten Wochen damit verbracht, H/i/r dabei zu beobachten, wie sie in die Tasten der Schreibmaschinen-artigen Tastatur des Lochkartenlochers schlugen oder Lochkartensammlungen mit diagonalen Linien in rotem Filzstift markierten.
R/i/ns Zeit in diesem Gastatelier war jetzt fast vorbei und sie hatten schon damit angefangen, ihre Kunstmaterialien und Werkzeuge, elektronische Chips, fluoreszierende Farben, Rollen von faltbaren Screens und all so Kram aus dem Bereich neben den drei Kühlschrank-großen Computereinheiten in der unteren Ebene des Raums wegzuschaffen. Es war faszinierend gewesen, die anachronistische Arbeit mit dieser veralteten Technologie mitzuerleben. Die Wood Trading Company hatte den Standort am Deich, der eigentlich an die Artist Residency vermietet wurde, aufgrund des extra hohen Bedarfs an Holz nach dem kürzlich in Kraft getretenen weltweiten Plastikverbot reaktivieren müssen.
Ehrlich gesagt, war H/i/rs Rechenarbeit nicht nur faszinierend, sondern auch äußerst ablenkend gewesen. R/i/n hatten ihren Plan, die Arbeit in den Lagerhäusern des Unternehmens die flussabwärts lagen, zu dokumentieren, praktisch aufgegeben. Stattdessen hatten sie ein simples, aber supereffizientes KI-Programm entwickelt, das H/i/rs gesamten Kalkulationsprozess von einer Woche auf 2,345 Sekunden verkürzte. Vor 6 Minuten hatten R/i/n verkündet, dass sie planten, die Software als Kunstwerk an die Besitzer*innen und Managing Directors des Unternehmens zu verkaufen, was optionaler Teil des Residenzprogramms war.
Jetzt stiegen H/i/r die wenigen Treppenstufen zwischen den zwei Ebenen des Raumes hinab, um eine weitere Sammlung von Lochkarten in das Lesegerät des Rechners zu stecken. Mitten in der Luft, über dem Schutt vor der einstöckigen Holzkonstruktion schwebend, drehten sie sich um und sagten zu R/i/n: „Sieht so aus, als ob du und ich bald hier weg sind. Ganz ehrlich, ich kanns kaum erwarten!”
Galerie
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R/i/n waren erstaunlich zufrieden, als sie die fertige Ausstellung ansahen. Sie hatten das Gefühl gehabt, die letzten paar Wochen, die gesamte Zeit ihrer Residency hier ganz schön verschwendet zu haben. Sie waren einfach nicht motiviert gewesen, immer abgelenkt, ideenlos, nicht in der richtigen Stimmung, um zu arbeiten. Aber in den letzten Tagen hatte sich dann alles gefügt, so wie immer irgendwie.
Der größte Raum im Gebäude, den sich normalerweise die alteingesessene Gewürzmühle im älteren Teil des Hauses und ein frisch eingezogenes Import/Export-Unternehmen als Lagerraum teilten, war ausgeräumt und in eine Galerie verwandelt worden.
Eigentlich war er gar nicht komplett ausgeräumt worden. R/i/ns Installation bestand aus vier Dingen, die während der Verwandlung von Arbeitsplatz in Galerie an ihrem Platz stehen gelassen wurden: ein Regal, eine Leiter, eine Sackkarre und ein kleiner Plattformwagen. Dies hatte zu etwas Verwirrung geführt, als die Ausstellungshelferinnen, die eine andere Installation, eine Reihe von Bürozellen entlang der Wand aufbauten, die Mitarbeiterinnen der Gewürzmühle beschuldigten, ihren Job das Lager leer zu räumen nicht richtig gemacht zu haben.
Die Arbeitsplätze in den Büros wurden nun von 10 Kunstagenturen bezogen, die ihre Dienstleistungen für die Dauer der Ausstellung dort anbieten würden.
R/i/n lächelten. Die Objekte hatten eine wirklich gute Wirkung im Raum. Und obwohl es so ein simples Konzept war, verblieben sie diesmal nicht mit dem allzu vertrauten Gefühl, es besser gemacht haben zu können. Sie drehten sich langsam zum Gehen und sagten zu sich selbst: „Kunst ist echt ein seltsames Unternehmen.”