17.08.2022
WISSEN, DASS „HALLO“ AUCH „AUF WIEDERSEHEN“ HEIßT: Über den Versuch, eine Palliativ-Künstlerin zu sein
Dafna Maimon
Als Olav Westphalen mich im Sommer 2020 anrief und fragte, ob ich Teil einer neuen Vereinigung rund um Palliativmedizin und ihr Verhältnis zur Kunst sein wolle, antwortete ich begeistert: „Sehr gerne! Ich liebe Höhlenmenschen!“ Ich hatte gerade einige Bücher über die Höhlenkunst des Jungpaläolithikums gelesen und wollte unbedingt eine Gruppe gründen, die sich mit deren Erforschung beschäftigt. Wir sprachen weiter – meist durcheinander – mit sich überschlagendem Eifer: ich über Höhlenmalereien und das Zusammenspiel mit ihrer natürlichen Umgebung, als Grundlage, um neu über das Kunstschaffen nachzudenken; Olav über Gespräche, die er mit Klimawissenschaftlerinnen darüber geführt hatte, den Planeten als einen Menschen zu betrachten, der im Sterben liegt und palliative Pflege braucht (und, dass Künstlerinnen wohl eher die unwahrscheinlichsten Pfleger*innen sind). Trotz unseres semiotischen Auseinanderdriftens und dem Plan, zwei völlig unterschiedliche Gruppen zu gründen, sprachen wir doch irgendwie bereits über dieselbe Sache. Ein paar Monate später wurde die Association for the Palliative Turn (APT) gegründet.
Vier Jahre zuvor hatte ich begonnen, zusammen mit Ethan Hayes-Chute an unserem ständig wachsenden Gesamtkunstwerk Camp Solong zu arbeiten. Das prozessorientierte Projekt existiert auf einem Schwesterplaneten von APT. Camp Solong ist ein nomadisches Sommercamp für Erwachsene, die „bleiben, um zu gehen“, „wo jede/r einen Abschied bekommt“, auch wenn es nicht direkt ein palliativ ausgerichtetes Unterfangen ist. Unsere Camps sind heterotopische Räume: Jede Session bietet sechs Personen über 25 Jahren die Möglichkeit, zu einer kindlichen Existenz mit Lagerfeuer, Schlafen im Freien (in Etagenbetten), regelmäßigen Nickerchen und Talentshows zurückzukehren. Dabei können sie angesammelte Lasten und Verluste, die ihr Leben trüben, verarbeiten. Die Camperinnen, die über einen Open Call ausgewählt werden, beschreiben in ihrer Bewerbung, welche Art von Verlust sie während des dreitägigen Camps zu verarbeiten oder zu bewältigen hoffen (falls sie etwas loslassen möchten). Es handelt sich jedoch weder um einen Rückzugsort für Trauernde noch um ein etabliertes therapeutisches Programm; die Betreuerinnen des Camps sind de facto zwei Künstler*innen – Ethan und ich. Während des gesamten Camps verkörpern wir unsere albernen (inzwischen im mittleren Alter befindlichen), aber ernsthaft verspielten Alter Egos, Fluffy und Baloo, die von einer ausufernden Besessenheit von Abschieden getrieben sind.
Von Anfang an steht das Ende eines jeden Camps im Mittelpunkt. Die erste Stunde des Camps wird mit einer Übung verbracht, die „Abschiedsstunde“ genannt wird. Darin üben die Teilnehmenden, sich voneinander zu verabschieden, bevor sie sich überhaupt vorstellen. Diese Verschiebung der Aufmerksamkeit vom „Hallo“ zum „Auf Wiedersehen“ dient dazu, das Leben zu würdigen und die Intensität des Augenblicks zu steigern:
„Im Camp Solong haben wir uns immer wieder die Frage gestellt: Warum ist die Herausforderung so groß? Warum fühlen wir im Sommercamp so viel, und wie können wir es am besten fühlen? Warum bleibt die Erfahrung so stark haften?
Die Antwort: Weil es endet. Jedes Sommercamp beginnt mit einem absehbaren Ende, und an diesem Ende muss sich jede/r Camperin, jede/r Betreuerin mit dieser unvermeidlichen Trennung von etwas auseinandersetzen, das nie wieder da sein wird.
Palliation bedeutet umarmen oder umhüllen, und im Rahmen der Palliativmedizin bedeutet es, die Schmerzen eines Sterbenden zu lindern. Camp Solongs Fokus auf den Abschied als Mantra vermittelt die Idee, dass das Leben eines jeden Menschen ein Sterbeprozess ist und daher Palliativpflege braucht. Es versteht auch die Trauer als einen nie endenden Prozess, als etwas, das wie ein fluktuierender Schatten je nach Lichtverhältnissen auf unterschiedliche Weise erscheint. Vielleicht kann man es betrachten wie eine langsame Apokalypse, die bereits im Gange ist, und nicht wie einen unvorhersehbaren Meteoreinschlag oder einen zuckenden Finger, der über einem Knopf lauert und alles mit einem Mal beendet.
Jede Camp-Session ist in gewisser Weise die Simulation eines Lebens im Leben, bei der es darum geht, das Beste aus jedem Tag zu machen. Die Teilnehmenden werden gebeten, sich selbst einen Camp-Namen zu geben, der gute Gefühle und Hoffnungen hervorruft oder sogar dazu beiträgt, angewöhntes schlechtes Verhalten in eine andere Richtung zu lenken. In einer der Sitzungen nahm eine Person, die Schwierigkeiten hatte, morgens aufzustehen, den Namen Early Bird an, während eine andere, die mit der Akzeptanz ihrer Sexualität seitens ihrer Familie kämpfte, Queen Elizabeth wählte. Ethan wurde durch eine Akzeptanz-Übung, in der es darum ging, Vorschläge von anderen anzunehmen, zu Baloo und ich wurde zu Fluffy aufgrund einer nicht enden wollenden, irrationalen Freude daran, mir ein Wesen mit dieser Eigenschaft vorzustellen. Die neuen Namen ermöglichen die Rekonstruktion der eigenen Identität in einer ansonsten geschlechtsneutralen, homogenisierten Camp-Bekleidung aus Sonnenuntergangstönen und weichen Baumwollstoffen.
Obwohl das Ende und der Abschied die charakteristischen Merkmale von Camp Solong sind, gehen die Camp-Betreuerinnen auf gleiche unbedarfte Weise an die Sache heran wie jede andere Person, die sich davor scheut, an das Ende ihrer Tage zu denken. Für die Ausstellung der APT im Künstlerhaus Bremen haben wir die Betrachterinnen eingeladen, einen intimen Moment aus dem persönlichen Leben der Camp-Betreuer*innen zu erleben. Unsere Installation, Camp Solong: Sheltered Hangups, ist eine behelfsmäßige private Festung, die aus über einen Tisch geworfenen Decken besteht, unter denen man hindurch kriechen kann (wenn man die Zugangsvoraussetzungen erfüllt, die auf dem Schild über dem Eingang angegeben sind: Grown-Ups Only). Unter dem Tisch angekommen, findet sich der/die Betrachterin in einem verwandelten Raum wieder, einer Art Mini-Hütte, die um einen Ruheplatz mit privaten Gegenständen, Notizen und einem pfirsichfarbenen Festnetztelefon aus vergangenen Zeiten herum gebaut ist. Wenn man den Hörer abnimmt, kann man ein Gespräch zwischen Fluffy und Baloo belauschen. Man kann hören, wie die Betreuerinnen einen Weg nach dem anderen finden, um sich nicht verabschieden zu müssen; indem sie den Abschiedsball immer wieder hin- und herwerfen und in der Leitung hängen bleiben.
"Camp Solong: Sheltered Hangups", 2022, Installationsansicht Künstlerhaus Bremen 2022, Foto: Fred Dott
Während APT als Verein in Anlehnung an die Palliativmedizin die Frage stellt, wie man so erwärmt und erfüllt wie möglich leben kann, nachdem ein Ende diagnostiziert oder absehbar wurde, unternimmt Camp Solong den Versuch, Simulationen für ein von vornherein sinnerfülltes Leben zu schaffen, ohne zu wissen, wann und wo das Ende eintreten wird. Camp Solong tut also sein Bestes, um sicherzustellen, dass das Ende nie außer Sichtweite ist, und könnte daher als eher neurotisches Konzept bezeichnet werden: Denn ist die Besessenheit vom Ende wirklich ein Akzeptieren des Endes? Irgendwie zeugt es doch von ablenkenden Bewältigungsstrategien und einem allgemeinen Mangel an Vertrauen in das Leben. Jeden Tag in der Annahme zu leben, dass es der letzte sein könnte, ist ein Ansatz, der weder nachhaltig ist noch – ironischerweise – die Gegenwart betont. Als Projektmythologie scheint das Ganze also eine Art Trauma in sich zu tragen, das durch selbstironischen Humor überspielt wird. Und dennoch: Nie fühlt sich ein flüchtiger Tag so reich, heiter und warm an wie im Camp Solong.
Im Wissen um meine eigene Biografie und mit dem Bewusstsein darüber, wie sie immer wieder meine Arbeit beeinflusst, ist es keine Überraschung, dass Camp Solong eine Form von Trauma sowohl verarbeitet als auch aufführt. Mein vierundvierzigjähriger gesunder Vater verschwand auf unerklärliche Weise aus meinem Leben, als ich dreizehn war – von einem Tag auf den anderen war er weg. Er starb scheinbar an einem einfachen Treppensturz. Seitdem habe ich das Gefühl, dass mein Leben durch dieses Ereignis, das Ende, bestimmt wurde. Die daraus resultierende nichtlineare und ständig oszillierende Trauer (das rhizomatische Trauma des unverarbeiteten Verlustes) schwebt immer noch wie ein fast unsichtbarer, aber dennoch lästiger Blütenstaub im Frühling durch meine Familie. In gewisser Weise entstand das Projekt Camp Solong aus dem Wunsch heraus (zumindest bei mir), die Erfahrung von Verlust zu erforschen. Gleichzeitig konnte es diese Verletzung wesentlich lindern. Es macht Sinn, dass Camp Solong fortlaufend ist (derzeit sechs Jahre) und einem unvorhersehbaren Zeitplan folgt; wie die Trauer hat es kein Verfallsdatum und keinen festen Rhythmus.
Wenn Ethan und ich in eine Camp Solong-Sitzung eintauchen, bauen wir weder eine skulpturale Hütte, die von Weitem zu sehen ist, noch planen wir ein unterhaltsames, performatives Programm. Wir erschaffen eine lebbare, kurzweilige, fiktive Welt, in der wir uns der temporären Gemeinschaft, die sich durch die einzigartige Symbiose ihrer Mitglieder bildet, vollständig öffnen. Camp Solong könnte ohne seine Camper*innen nicht existieren, die nur mit einer Zahnbürste und einem Haufen „emotionalen Müll“ in der Hand im Camp ankommen und alles andere zurücklassen: ihre normale Kleidung, ihre Telefone und Computer, ihre Namen, die Gewissheit über die alltäglichen Ereignisse, und jeden Kontakt zur Außenwelt. Am Ende des Camps und vor allem am letzten Abend, wenn der emotionale Müll herausgeholt und dessen Entstehungsgeschichte mit der Gruppe geteilt wird, können das ganze Ausmaß und die Universalität des Verlusts (und der gemeinsamen Tränen) auf so deutliche und innige Weise erlebt werden wie sonst nie.
Als eines der APT-Gründungsmitglieder war ich von Anfang an von dem Projekt begeistert. Die Arbeit, die Ethan und ich mit Camp Solong leisteten, fand nun Unterstützung von einer größeren Familie von Menschen, die sich mit Fragen rund um das Lebensende beschäftigten: Denkerinnen, Künstlerinnen, Körperarbeiterinnen und Menschen mit einer Neugier gegenüber Palliativmedizin. Und tatsächlich, nach dem ersten Jahr und nachdem ich von echten Palliativmedizinerinnen gelernt und mit den Mitgliedern der Vereinigung zusammengearbeitet hatte, entfaltete das neue Wissen bereits eine Wirkung. Es half mir, den Abschied von einem geliebten Freund zu akzeptieren, der seinen Kampf gegen den Krebs verloren hatte. Dann, Anfang des Winters, fand ich mich an einem neuen aufregenden Ort wieder: Ich sollte Ende des Sommers ein neues Leben zur Welt bringen und bewegte mich plötzlich auf die Geburt zu, anstatt das Gegenteil zu tun. So sehr ich mich auch zuvor mit der Ungewissheit des Endes beschäftigt hatte und so sehr mich auch mein Training für unvorhersehbare Abschiede im Camp Solong darauf vorbereitet hatte, so sehr schockierte es mich doch, dass ich das Kind, das ich in mir trug, im zweiten Drittel der Schwangerschaft verlor. Für einen Moment schien es, dass keine frühere Arbeit, kein Camp-Solong-Manifest mit seinen Warnungen und präventiven Versuchen, die Abschiede des Lebens zu akzeptieren, kein APT-Workshop oder -Event mir aus der Verzweiflung helfen konnte, in der ich mich befand. Das Leben verdüsterte sich, und nach einigen Wochen suchte ich einen ehemaligen Therapeuten auf, der mir nur mitteilte, dass Trauer nicht von der Krankenversicherung übernommen werde; Trauer sei keine diagnostizierbare Krankheit. Als ich laut darüber nachdachte, dass ich meinen beruflichen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen könnte, erklärte er mir, dass das, was ich gerade durchmachte, zwar bedauerlich und zweifellos schmerzhaft sei, ich aber nicht krank sei, sondern die Gesellschaft.
"Camp Solong: Losing Weight", 2021 (Video Still)
Während all dies geschah, gab es Gelegenheiten, ein neues Camp Solong zu planen sowie an APT-Veranstaltungen und zukünftigen Ausstellungen teilzunehmen. Während dieser ganzen Zeit machte ich mir große Sorgen, dass ich zurückfallen und von der APT ausgeschlossen werden könnte (trotz der Zusicherungen, dass es mehr als in Ordnung sei, eine Pause einzulegen); dem tiefen Schmerz, der mich ergriffen hatte, wich ich dabei aus. Erst Monate später, als Zeit und Sonne das Leben wieder ein wenig erhellt hatten, erkannte ich, wie absurd es gewesen war, Schuldgefühle und FOMO gehabt zu haben, weil ich in einer Zeit der körperlichen Heilung und Trauer als Mitglied einer Palliativvereinigung nicht zu Höchstleistungen fähig gewesen war.
"Camp Solong: Lost Weight", 2021, Einkanal-Video & Invertierte Lochskulpturen, Installationsansicht Brandenburgischer Kunstverein Potsdam 2021, Foto: Simon Blanck
Vielleicht braucht es noch viele Camp-Solong-Sitzungen, noch mehr Abschiedstraining und noch mehr APT-Veranstaltungen, Workshops und Retreats, bevor ich mich als Palliativkünstlerin bezeichnen kann. Vielleicht ist es sogar möglich, mich entlang der neoliberalen Logik davon zu überzeugen, dass zusätzliche Verluste eine bessere Camp-Solong-Beraterin ausmachen. Aber stattdessen ziehe ich es vor, diesen Text zu schreiben und unser eigenes Camp-Solong-Lehrvideo Losing Weight noch einmal anzuschauen und mich von Baloo daran erinnern zu lassen, dass man manchmal nur mit einem Freund ein Loch in den Boden graben und den Dreck mit bloßen Händen ausheben muss, damit sich das Leben wieder leichter anfühlt.
Dieser Text ist in Englisch erstmals in The Palliative Turn Number 1 erschienen.