Performance
Video
Kunsthalle Kunstmuseum Bremerhaven

02.10.2022

Art in the Palliative Age

[Kunst im Palliativzeitalter] von Lívia Páldi

Association for the Palliative Turn (APT) Manifesto der Association for the Palliative Turn, 2020 Design: Mathias Lempart und Sascia Reibel, Shortnotice Studio

 

Zu Beginn der COVID-19-Pandemie im Jahr 2020 sah ich mir eine Videoaufzeichnung der letzten Version von Barbara Hammers performativem Vortrag The Art of Dying or (Palliative Art Making in an Age of Anxiety) erneut an. Dieser Vortrag Hammers, einer wegweisenden lesbischen Künstlerin und experimentellen Filmemacherin, hatte 2018 im Whitney Museum, New York, stattgefunden. Ursprünglich hatte Hammer, inspiriert von Rainer Maria Rilkes Briefe an einen jungen Dichter von 1929, anlässlich einer Preisverleihung an der Temple University in Philadelphia[1] eine improvisierte Rede gehalten. Später meißelte sie daraus eine elegant komponierte Meditation über ihr Lebenswerk und über die Freuden und Mühen des Kunstschaffens in Zeiten ihrer fortschreitenden Krebserkrankung. Die Malerin Nicole Eisenman beschrieb diesen tief berührenden öffentlichen Auftritt als „umgekehrte Beerdigung“.[2] Hammers langjährige Partnerin, die Menschenrechtsanwältin Florrie Burke, kämpft noch heute für das Recht auf ein Sterben in Würde, genauer gesagt für die Verabschiedung des „New York Medical Aid in Dying Act“, eines Gesetzes, das es unheilbar kranken Erwachsenen ermöglichen würde, ein ärztliches Rezept zu erhalten, um ihr Leben friedvoll zu beenden. Hammer und Burke hatten sich an die Gesetzgeber*innen gewandt, in der Hoffnung, sie zur Unterstützung der medizinischen Sterbehilfe zu bewegen.

         Das zentrale Ziel der Palliativmedizin ist die Optimierung der Lebensqualität von Patient*innen, die an einer lebensbedrohlichen Krankheit leiden, einschließlich ihres psychosozialen und spirituellen Wohlbefindens.[3] Die Auseinandersetzung mit der Palliativmedizin umfasst ein komplexes Feld: Vom bloßen Wahrnehmen des Themas Sterblichkeit über rechtliche, ethische und medizinische Aspekte des Sterbens sowie Ökologien der Pflege am Lebensende hin zu Möglichkeiten zur Beschleunigung des Sterbeprozesses im Falle einer unheilbaren Erkrankung; dabei spielen auch die je nach kulturell-sozialem Kontext erschreckend unterschiedlichen Bedingungen eine Rolle, unter denen Entscheidungen zum Ausstieg aus dem Leben überhaupt getroffen werden können.

         Hammers Vortrag sah ich mir erneut aus dem Grund an, meine eigenen Ängste davor zu überwinden, über das Sterben zu sprechen und den Tod zu verstehen und zu akzeptieren. Er kam mir während einer Performance der Künstlerin Kasia Fudakowski ins Gedächtnis, einer der Gründer*innen der Association for the Palliative Turn (APT). Sie betrat Anfang 2023 in der Budapester Trafo-Galerie die Bühne und stellte in nüchternem Ton die APT als ein loses Kollektiv von „Palliativ-Neugierigen“ vor.[4] Eine zweite Version dieser Performance, die in der Pogo Bar der KW in Berlin stattfand,[5] wurde um eine Gruppenlesung des APT-Manifests, eine Lebenslinien-Zeichenübung und eine Reihe von Kurzvideos erweitert, die Fudakowski auswählte, indem sie ein Glücksrad drehte. So bekam ich einen Einblick in einige der zentralen Praktiken der APT, zu deren Mitgliedern – einige sind mehr und andere weniger aktiv – unter anderen Künstlerinnen, Designerinnen, Comedians, Klimawissenschaftlerinnen, Palliativmedizinerinnen und Kinesiolog*innen gehören.

         Initiiert wurde die APT von dem bildenden Künstler, Karikaturisten und Anti-Comedian Olav Westphalen, der den Begriff Palliative Turn prägte; das Konzept basiert auf seiner jahrzehntelangen Arbeit. Seine Projekte sind häufig kollaborativ und über lange Zeiträume angelegt, so auch Dysfunctional Comedy, eine performative Forschungsarbeit über Humor und dessen Fähigkeit, Normen und Standpunkte gegenüber tabuisierten und heiklen Themen zu hinterfragen und sich kritisch mit Machtverhältnissen und Unflexibilitäten in der Kunst auseinanderzusetzen.[6] Westphalens künstlerische Erforschung von Humor- und Comedy-Theorien und deren möglichen Anwendungsarten für palliative Zwecke rühren von seinen eigenen Erfahrungen mit einer Krebserkrankung her. Er tat sich mit einigen Gleichgesinnten zusammen und so wurde eine group in flux, eine Gruppe im Wandel, geboren.

         Die unterschiedlichen Kompetenzen, die von den Mitwirkenden in die APT eingebracht und miteinander geteilt werden, machen das Projekt vielseitig und ergebnisoffen. Die Struktur ist horizontal angelegt und somit profitieren alle von einem breiten Spektrum an Erfahrungen und Haltungen in ihrer Auseinandersetzung mit Verlust, Tod, Sterben und Schmerz – Themen, die nicht nur sehr komplex, sondern auch unangenehm sind. Die Gründungs- und Kernmitglieder von APT wie die bildenden Künstlerinnen Kasia Fudakowski, Dafna Maimon, Simon Blanck und der Komiker John Luke Roberts treffen sich trotz ihrer unterschiedlichen Karrieren an einer gemeinsamen Schnittstelle: Komödie. Bezugnehmend zu Theorie und Philosophie des (Anti)-Humors konstruieren sie paradoxe Situationen, um ihre kritische Haltung gegenüber bestimmten schadhaften Problematiken zu verdeutlichen. Die APT stützt sich auch auf die Erfahrungen professioneller Pflegekräfte und Palliativmedizinerinnen wie die der Sterbe- und Trauerbegleiterin Lydia Röder, die seit 1988 mit Menschen am Ende ihres Lebens arbeitet. Durch den Einsatz von Musik lindert sie Schmerzen und Ängste von Patient*innen im Endstadium ihrer Erkrankung.[7]

         Die APT adressiert Erwartungen und Vorbehalte gegenüber dem „Ende“ im Kontext der globalen ökologischen Krisen-Panik-Matrix. Dabei geht es zum Teil auch um Widersprüche in Bezug auf die Rolle der Kunst und die gesellschaftlichen Erwartungen an sie. „Ein Großteil der zeitgenössischen Kunst (und hier schließe ich meine eigenen Bemühungen mit ein)“, schreibt Westphalen, „hat ihre Legitimation aus einem wie auch immer gearteten Anspruch abgeleitet, die Dinge besser zu machen. Sie versucht dies in der Regel mit den klassischen Strategien der Aufklärung wie Kritik, Entlarvung von Ideologien, Bewusstseinsbildung und so weiter. Auch wenn die Kunst in der Regel nicht direkt anwendbar ist, so wird doch von ihr erwartet, dass sie – wenn auch auf poetische oder indirekte Weise – Lösungen anstrebt.[8]

         Die APT, die sich ambivalent und mit ironischem Unterton innerhalb der Kultur der Turns verortet, identifiziert sich als eine Gruppe von Akteur*innen und Lernenden im stetigen Wandel, die sowohl in ihren künstlerischen Untersuchungen als auch in ihren Betreuungspraktiken dem Grundsatz einer kritischer Interdisziplinarität folgt. Humor ist dabei ein Medium, eine Haltung und ein variables Instrumentarium auf dem Weg zur Sinnfindung und Handlungsfähigkeit innerhalb unserer gegenwärtigen Realität. Mit einer stetig wachsenden Zahl von Projekten beteiligt sich die APT auch am zeitgenössischen Diskurs zur Fürsorge. Sie befasst sich mit einem erweiterten und politisierten Verständnis von Pflege, den durch die jüngste Pandemie verstärkten Problemen und der Entwicklung von nachhaltigen Produktionsmodellen.[9] Die APT versteht sich als Ressource, die gemeinschaftlich genutzt werden kann, und dient auch als Rahmen dafür, die Fähigkeiten der Kunst über illustrative Diagnosen der wachsenden Krisen hinaus zu überdenken.

         Entlang einer Reihe von kunstbasierten Aktivitäten und angeregt durch Gespräche, Versammlungen und Austausch hat sich die APT seit Beginn stetig weiterentwickelt. Angefangen mit einem informellen Treffen, fand schließlich das Symposium AFASIOTOPIA im Salon am Moritzplatz in Berlin während der ersten Welle der COVID-19-Pandemie statt; später gab es Ausstellungen und Veranstaltungen im Brandenburgischen Kunstverein, Potsdam, und im Künstlerhaus Bremen.[10]

         In der kurzen Geschichte der ATP hat es auf Grundlage der diversen Erfahrungen ihrer Mitglieder verschiedene Organisationsmodelle gegeben.[11] Man könnte meinen, dass mit der wachsenden Anzahl an Mitgliedern und Teilnehmer*innen auch die Möglichkeiten vielfältiger würden. Wären da nicht die Probleme der Finanzierung, die Herausforderungen im Umgang mit standardisierten institutionellen Betrieben und der kuratorischen Rahmensetzung sowie den konventionellen Erwartungen an die Kunstproduktion. Die Gruppe hat in ihren verschiedenen Formationen unter anderen in White-Cube-Settings zusammengearbeitet, wo sie, um dem formalen Ausstellungsraum entgegenzuwirken, zum Teil festivalähnliche Settings schufen – mit Requisiten, Texten, medizinischen/pflegerischen Hilfsmitteln und zeitgenössischen Kunstwerken.[12]

         Es liegt ein Unterschied darin, wie Künstlerinnen und wie Palliativmedizinerinnen den Körper und den Pflegeprozess betrachten; daher müssen Form und Sprache sowohl der kollektiven Arbeit als auch deren öffentlicher Präsentation immer wieder sorgfältig ausgehandelt werden. Künstler*innen bringen in der Diskussion über palliatives Denken beispielsweise das Absurde zum Vorschein, das sich in Themen wie Schmerz, Tragik und Angst, aber auch in Freude und Vergnügen verbirgt.

         Die APT könnte denjenigen, die eine starre Struktur erwarten und die ein gewisses Unbehagen nicht auch als „organisierendes“ Prinzip verstehen, Kopfschmerzen bereiten. Die APT  sieht sich als eine Formation im Fluss, die von einem wechselnden Kreis aktiver Mitwirkender geformt wird. Wie bei Kollektiven üblich, hängt ihr Funktionieren stark von der Aktivität der Mitglieder und ihrer Nutzung der Plattform ab.

         Wahrscheinlich funktioniert die ATP am besten bei der performativen Durchführung von „Services“, seien es Audits, Körperübungen, Zeichenworkshops, Musikveranstaltungen oder ähnliches. Einige dieser Services entwickeln sich direkt aus dem Austausch über Palliativmedizin heraus oder sind davon inspiriert. Sie können durchaus in einer Ausstellung gezeigt werden, in erster Linie aber zielen sie auf eine prozessorientierte und spielerische kollektive und kritische Untersuchung der Widerstandsfähigkeit und des immer heuchlerischer werdenden Kunstbetriebs ab.


[1] Ihr Vortrag The Art of Dying or (Palliative Art Making in an Age of Anxiety) über das Leben mit einer fortgeschrittenen Krebserkrankung bei paralleler künstlerischer Tätigkeit begann als improvisierte Preisverleihungsrede an der Temple University im Mai 2022. Später hielt sie sie an der Tyler School of Art, Yale University, und schließlich, in gestraffter und kristalliner Form, im Whitney Museum. Siehe https://barbarahammer.com/performances/the-art-of-dying-or-palliative-art-making-in-the-age-of-anxiety/

[2] Siehe https://www.artforum.com/diary/corrine-fitzpatrick-on-a-barbara-hammer-performance-at-the-whitney-museum-77258

[3] Siehe https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6020769/

[4] So beschreibt es Fudakowski selbst.

[5] Fudakowskis Performance kann hier nachgeschaut werden: https://trafo.hu/en/additional_programs/TU_Fudakowski.

Fudakowski wurde von Sofie Krogh Christensen eingeladen, die Performance fand im März 2022 statt: https://www.kw-berlin.de/en/pogo-bar-kasia-fudakowski/

[6] Siehe https://www.sternberg-press.com/product/dysfunctional-comedy-a-reader/

[7] Siehe https://lydia-roeder.de/

[8] Olav Westphalen, Welcome to the Palliative Turn, in: The Palliative Turn 1, Künstlerhaus Bremen, 2022, S. 10;
Zitat aus dem Englischen übersetzt von Verena Buttmann.

[9] Eines der wirkungsvollsten Projekte während der Pandemie war das kollektive Künstlermanifest Not Going Back to Normal, das 2020 in Schottland entstand und „Künstlerinnen mit Behinderungen in ihrer Vielfalt, Wut und Fantasie versammelt, um die institutionelle Unfähigkeit im Kontext der schottischen Kunstszene anzuprangern und sich eine Zukunft vorzustellen, in der Künstlerinnen mit Behinderungen im Mittelpunkt stehen“. (Übersetzt aus dem engl. Originaltext von Verena Buttmann)

Siehe https://www.notgoingbacktonormal.com/

[10] Siehe https://www.salonammoritzplatz.de/event/workshop/afasiotopia-or-the-palliative-turn/,

http://www.bkv-potsdam.de/palliative-turn, and https://www.kuenstlerhausbremen.de/de/ausstellung/the-palliative-turn/

[11] Erwähnenswert ist das viertägige Treffen im Rahmen des 9. Interformat-Symposiums der Nida Art Colony, woraufhin einige der zukünftigen Kernmitglieder der APT (Olav Westphalen, Kasia Fudakowski, Dafna Maimon) begannen, Pläne für die spätere Zusammenarbeit mit der APT zu diskutieren.

Siehe https://nidacolony.lt/en/projects/symposium/inter-format-symposium-2019

[12] Zu sehen war das bei der Ausstellung und dem Publikationsprojekt Sensitivity Training für die 25. Gabrovo Biennale für Humor & Satire und den Brandenburgischen Kunstverein in Potsdam. Siehe https://biennial.humorhouse.bg/en/exhibitions/Sensitivity-Training-Exhibition-curated-by-Olav-Westphalen-12 und http://www.bkv-potsdam.de/palliative-turn

Lívia Páldi ist eine Kuratorin und Kunsthistorikerin. Sie lebt und arbeitet zur Zeit in Budapest, Ungarn. Ihr jüngstes Ausstellungsprojekt war On Violence, Budapest Gallery.

Dieser Beitrag enstand im Rahmen von The Palliative Turn

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