15.07.2024
Öffentliche Unsichtbarkeit
Bubu Mosiashvili
„Stories make worlds, worlds make stories“ von Bubu Mosiashvili war in der Reihe „Re-Framing“ in den Posterrahmen im Tunnel vor der GAK zu sehen. Darin nähert er sich Geschichte und Gegenwart der 28 Heerstraßen in Bremen, hinterfragt ihre Umbenennung und die darin eingeschriebenen, vermeintlich unsichtbaren Machtdynamiken. Als Teil der Ausstellung erschien die Zeitung „& another story“, in dem der Text „Öffentliche Unsichtbarkeit“ erstmals veröffentlicht wurde.
Bubu Mosiashvili: stories make worlds, worlds make stories. Zeitung „& another story“ © GAK
Vorbemerkung
Im Text erwähne ich die etwas beunruhigende Dynamik des Unsichtbaren und Sichtbaren. Ich wünsche mir, dass das Unsichtbare sichtbar wird, und versuche, zu diesem Prozess beizutragen, indem ich Strukturen, Geschichten und Verbindungen offenlege, das scheinbar Verborgene aufdecke und die blinden Flecken beleuchte. Ich schlage Brücken zwischen entfernten Punkten durch die Kraft der Kunst und warte darauf, dass es mein soziales Umfeld beeinflusst. Im Grunde kritisiere ich, aber in einem recht traditionellen Rahmen. Traditionelle Kritik, wenn sie sich auf gesellschaftliche Strukturen und Machtdynamik bezieht, beinhaltet in der Regel eine Analyse, die auf etablierten Normen, historischen Präzedenzfällen und klassischen theoretischen Rahmenbedingungen beruht. Im Grunde wühle ich auf. Diese Form der Kritik kann zwar wertvolle Einblicke in die Funktionsweise und historische Entwicklung von Institutionen liefern, hat aber auch einige klare Grenzen. Nun, sie funktioniert einfach nicht (mehr), sie hat keine große Wirkung. Es hat mir Spaß gemacht, die zugrundeliegenden Elemente aufzudecken und festzustellen, was in einem bestimmten Kontext vorhanden ist und was fehlt. Der entscheidende Aspekt liegt jedoch darin, wie man sich diesen zugrundeliegenden Elementen nähert und sie interpretiert. Selbst wenn es mir gelänge, die richtigen Stellen aufzuwühlen, selbst wenn ich alles sichtbar machen würde, würde ich dadurch nicht alles offenlegen. Traditionelle Methoden der Freilegung führen nicht von sich aus zu einer Veränderung. Kunst ist überall um uns herum und ihr Umfang macht sie unübersehbar. Es ist jedoch wichtig, Kunst nicht nur als Repräsentation, Ästhetik oder als bloßes Objekt oder Handelsware zu betrachten. Während des gesamten Ausstellungszeitraums und der von uns organisierten und ermöglichten Veranstaltungen, die die Ausstellung begleiteten und kommentierten, konnte ich eine kollektive Anstrengung beobachten, die uns dazu ermutigt, Kunst als eine transformative Kraft zu betrachten, als die Kraft, die Ereignisse nicht als singuläre Erscheinung, sondern als Teil eines größeren Prozesses liest. Im Dreck der Geschichte zu graben ist für mich immer noch wichtig und könnte ein guter Ausgangspunkt sein, ein Ausgangspunkt, um weiter zu wühlen, aber diesmal in der Zukunft, bis zumindest einige der vielen Enden dieses Prozesses sichtbar sind.
Fotos von gemeinsamen Spaziergängen entlang der Kattenturmer (23. Mai 2024) und Waller Heerstraße (22. Juni 2024) © GAK
Öffentliche Unsichtbarkeit
Als Kind faszinierte mich Mythologie und so entdeckte ich die Tarnkappe, ein mystisches Objekt, das es dem der Trägerin ermöglicht, sich vorübergehend unsichtbar zu machen. Ich stieß in verschiedenen Sagen auf diese Art von Objekten und eine der Figuren, die ein solches besaß und nutzte, war Siegfried aus dem Nibelungenlied. Doch abgesehen von meiner Faszination für diese Superpower, hatte ich große Angst davor, umgeben zu sein von unsichtbaren Mächten, von versteckten Kräften, die außerhalb meiner Kontrolle liegen und fähig sind, mein Leben in einer Weise zu manipulieren und zu beeinflussen, die ich nicht begreifen kann.
Gemeinsam mit meinen Kolleg*innen besichtigte ich 2022 das Gebäude eines ehemaligen PLUS Supermarktes, in dem wir eine Ausstellung organisieren wollten. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch recht neu in Bremen und wenig vertraut mit seinen Straßen und Nachbarschaften. Der Raum, den wir besichtigten, lag an der Gröpelinger Heerstraße – zu diesem Zeitpunkt ein weiterer beliebiger Name für mich. Kurze Zeit später fiel mir ein, dass auch ich in der Nähe einer Heerstraße wohnte, nämlich der Waller Heerstraße. Als ich einen Blick auf eine Karte warf, war ich erstaunt über die Vielzahl an Heerstraßen in Bremen. 28 Straßen tragen den gleichen Namen. ‚Das Heer‘ ist bedeutungsgleich mit ‚Armee’, die ‚Heerstraße‘ also eine militärische Straße. Sie wird von den Streitkräften eines Landes gebaut und unterliegt in der Regel deren Zuständigkeit hinsichtlich Zugänglichkeit, Überwachung und Instandhaltung. Ich war mir der zwangsläufigen Beschränkung bewusst, die sich aus der ausschließlich kartografischen Beobachtung ergibt. Es schien mir nicht ausreichend, um die komplexen Nuancen, die diese Straßen kennzeichnen, umfassend kognitiv und emotional zu erfassen. Ihre räumlichen Dynamiken, sozio-kulturellen Aspekte und emotionalen Verbindungen blieben abwesend, wenn ich diese Wege nicht selbst besuchen, erlaufen und erkunden würde. So begann ich, diese Straßen aufzusuchen, dort täglich zu spazieren und schon bald entwickelte sich daraus eine Gewohnheit. Ich beginne meine Spaziergänge auf der Waller Heerstraße, lege eine Pause bei der Bäckerei ‚Aydin Brot’ am Ende der Gröpelinger Heerstraße ein, biege links in die Oslebshauser Heerstraße, um den Park mit den drei weiherähnlichen Seen zu besuchen, betrachte die Architektur der Grambker Kirche auf der Grambker Heerstraße, nehme mir ein paar Minuten, um dem Flusslauf der Lesum an der Kreuzung von Burger und Bremer Heerstraße zu lauschen, hole mir ein Getränk bei REWE in der Bremer Heerstraße und beende den Spaziergang dort, wo auch die Stadt Bremen endet und Niedersachsen beginnt. Für mich ist das Spazieren ein inhärent reflexiver, automatischer Prozess, ganz ohne bewusste Überlegungen, der es meinem Körper ermöglicht, die Rolle eines aufmerksamen Beobachters einzunehmen und auf diese Weise die Verwandlung in einen somatischen Stadtwanderer auszulösen. Während des Spazierens wird die Einsamkeit zu einem Ding der Unmöglichkeit angesichts der Vielzahl von Umgebungen, die uns umhüllen und in unserem Blickfeld liegen. Die Stadt, verwoben mit unserem Körper, wird zu einem lebendigen Archiv von Begegnungen, Erinnerungen und den rhythmischen Bewegungen der anderen. Aber was passiert, wenn diese ‚Anderen’ ein Heer sind? Und ihr ‚Gehen’ ein ‚Marschieren’ ist?
Auszug aus den Senatsprotokollen, 18. Januar 1916 © Staatsarchiv Bremen
Während des Spazierens entlang der Bremer Militärstraßen schwirrten mir viele Fragen durch den Kopf. Warum sollte eine Stadt 28 Militärstraßen haben? Warum sollten sie immer noch den Begriff ‚Heer’ tragen und diesen im alltäglichen Leben der Stadt normalisieren? Wie können wir auf Straßen gehen, die ursprünglich für Truppen und andere militärische Einheiten erbaut wurden? Wird unser Gehen auf diesen Straßen zum Marschieren?
Die Erzählung der Bremer Heerstraßen zu entschlüsseln, erwies sich als herausfordernder, als ich es mir vorgestellt habe. Warum ist die Geschichte dieser Straßen so versteckt? Und was versteckt sich in diesen Straßen? Mir war klar, dass ich es nicht mit einem Denkmal oder einer Gedenkstätte zu tun hatte, sondern mit etwas, das kein physisches Gesicht hatte, etwas, das vergraben und unsichtbar war, aber dennoch sehr präsent.
Ich öffne das „Bremer Lexikon”[1], um das Wort ‚Heerstraße’ nachzuschlagen. Das Buch sagt mir, ich solle zu ‚Chaussee’ zurückkehren und finde das Folgende: „Die Ausfallstraßen, z.B. nach Schwachhausen oder nach Walle wurden im alten Bremen Chausseen genannt und erst 1914 bei der aus patriotischen Gründen vorgenommenen Sprachreinigung in Heerstraßen umbenannt“. Unterlagen, die ich im Staatsarchiv Bremen gefunden habe, belegen, dass die Umbenennung von ‚Chaussee’ in ‚Heerstraße’ offiziell im Jahr 1916 erfolgte, als Senator Lürmann das Baupolizeiamt aufforderte, die Bezeichnung ‚Chaussee’ überall in ‚Heerstraße’ zu ändern. Natürlich ist es relevant, zu wissen, wann genau die Umwandlung stattgefunden hat, da die Zeitspanne einen faktischen Kontext für das Ereignis liefert, aber noch wichtiger ist es, zu untersuchen und zu verstehen, was ein ,rein patriotischer Grund’ ist. Doch zunächst ist es vielleicht sinnvoller, ein paar Worte über die Entstehung der Chausseen in Bremen und den damit verwobenen historischen Ereignissen zu verlieren.
Die Franzosenkriege hatten einen wesentlichen Einfluss auf die Wirtschaft der norddeutschen Küstenregion in der vornapoleonischen Zeit. Andauernde Kriegshandlungen und die französischen Eroberungen in ganz Europa veranlassten ausländische Banken und Kaufleute, sich in den neutralen Hansestädten niederzulassen. Während des gesamten 18. Jahrhunderts profitierten die hanseatischen Stadtstaaten in Kriegszeiten erheblich vom Wachstum der neutralen Tonnage. In den 1790er Jahren kam es zu einem bemerkenswerten Anstieg des Handels- und Schifffahrtsvolumens, der sich in höheren Gewinnen niederschlug. Bremen entwickelte sich in dieser Zeit zu einem außerordentlichen Nutznießer und verzeichnete ein erhebliches Wachstum durch seine Beteiligung am Handel mit Getreide und kolonialen Gütern wie Baumwolle und Tabak, die aus den Vereinigten Staaten importiert wurden [2].
Im Jahr 1803 kam Bremen durch den Vertrag von Lunéville unter französischen Einfluss und wurde Teil des französischen Klientelstaates Königreich Westphalen. 1811 wurde Bremen als Teil des Departements Bouches-du-Weser direkt in das Französische Kaiserreich eingegliedert. Die französische Verwaltung führte in dieser Zeit signifikante Änderungen in der politischen Führung, den Rechtssystemen und der Entwicklung der Infrastruktur ein.
Napoleon wusste um die entscheidende Rolle eines gut ausgebauten Fernstraßennetzes für die Herrschaft über ein Imperium, sowohl in wirtschaftlicher als auch in militärischer Hinsicht. Er erkannte den Stellenwert des Bremer Reichtums an kolonialen Gütern, die für Frankreich von immenser Wichtigkeit waren, und begriff die Notwendigkeit effizienter Fernstraßen, die einen raschen Warenaustausch innerhalb seines Reiches gewährleisten würden. Gleichzeitig sollten diese neuen Straßen auch den schnellen Transport seiner Truppen erleichtern. Infolgedessen wurde 1811 beschlossen, die bestehende ‚Route Impérial No. 3’ zu erweitern und die ‚Chaussée Napoleon’ zu errichten. Dieses ehrgeizige Projekt zielte darauf ab, die bestehende Strecke von Paris bis zum Rhein zu verlängern und eine direkte, ununterbrochene Verbindung bis nach Hamburg zu ermöglichen. Wesentlich ist dabei, dass diese Strecke durch die Stadt Bremen führte, dies ihre Bedeutung innerhalb des Transportnetzes festigte und ihre Rolle im Französischen Kaiserreich stärkte. Im Jahr 1812 begann der Bau eines weiteren Großprojektes, die ‚Kattenturmer Chaussee’. Kurze Zeit später, nach der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813, endete für Bremen die ‚Franzosenzeit’. Nach siebenjähriger Fremdherrschaft hinterließ die abziehende Besatzungsmacht einen unvollendeten Damm. Ungeachtet der Nachkriegsbedingungen waren die Bremer Würdenträger entschlossen, die während des Baus der napoleonischen Straße erzielten Fortschritte nicht aufzugeben, und so beschlossen sie, die Chausseen fertigzustellen. Die örtlichen Ingenieure und Steinmetze setzten ihre Arbeit fort und stützen sich dabei auf die unter der französischen Kontrolle erworbenen Kenntnisse. Im Jahr 1814 war die Strecke durch Bremen schließlich fertiggestellt.
Zügig beschloss Bremen den Bau weiterer Chausseestraßen. „Unmittelbar nach dem Ende der Napoleonischen Kriege feierten die Hanseaten ihre Unabhängigkeit von den Franzosen, indem sie in öffentlichen Gedenkfeiern an so wichtige Meilensteine wie die Völkerschlacht bei Leipzig, die Rückkehr der Hanseatischen Legion und den Abschluss des Friedens von Paris erinnerten.“[3] – Ich frage mich, ob der Weiterbau dieser Straßen von der Bremer Bevölkerung als ein solches Gedenken gesehen wurde, obwohl das Hauptinteresse für die Entscheidung von den gutbürgerlichen Gutsbesitzern Schwachhausens mit ihren prächtigen Landgütern ausging. Auch wenn die Bedeutung des Baus derselben Art von Straßen durch die französischen Herrscher und die Bremer Bevölkerung unterschiedlich erscheinen, so teilen sie doch die gleichen grundlegenden Überlegungen, nämlich den Verteidigungs- und Sicherheitsbedürfnissen einer Region zu entsprechen und sich dabei auf Effizienz, Zweckmäßigkeit und auf die Ermöglichung der wirtschaftlichen Entwicklung zu konzentrieren. Beim Bau solcher Straßen werden häufig wirtschaftliche Faktoren und das Potenzial zur Belebung von Handel und Gewerbe berücksichtigt, was für Bremen von noch größerer Bedeutung war.
Für ein Jahrhundert wurden die von Napoleon eingeführten Straßen in Bremen als ‚Chaussee’ bezeichnet. Doch 1915, während des Ersten Weltkrieges, führten deutsche Soldaten an der Westfront Grabenkämpfe gegen ihre langjährigen französischen Kontrahenten. Eduard Friedrich Georg Michaelsen, ein Bremer Kaufmann und spanischer Konsul mit Wohnsitz in der Schwachhauser Chaussee, schlug vor, die Straße in ‚Hindenburgallee’ umzubenennen – zu Ehren des berühmten Generalfeldmarschalls, der für seine Siege an der Ostfront berühmt war [4]. Die Bürgerschaft und der Senat lehnten diesen Vorschlag jedoch ab und entschieden sich für eine noch weitreichendere Änderung. Am 18. Januar 1916 wurden schließlich zwanzig ‚Chaussee’- Straßen [5] sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten Bremens in ‚Heerstraße’ umbenannt, das Dokument wurde von Senator Theodor Lürman unterzeichnet.
Auszug aus den Senatsprotokollen, 18. Januar 1916 © Staatsarchiv Bremen
Namensgebungen sind politische Akte, eine Demonstration von Macht. Nicht allen ist es erlaubt, etwas in der Öffentlichkeit einen Namen zu geben. Benennungen sind Mittel, um verborgene Aspekte aufzudecken und in den Mittelpunkt zu rücken. In seinem Buch „Those Who Are Dead Are Not Ever Gone”[6] schreibt Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, „eines der effizientesten Hilfsmittel der Kolonialität ist die Fähigkeit, Dinge zu benennen. Die Macht der Nomenklatur und Taxonomie.“ Der Akt der Namensgebung ist Zeugnis der vorherrschenden Hegemonie, ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Vorherrschaft im komplizierten Gefüge gesellschaftlicher Erzählungen. Solch eine Kolonialität des Benennens geht über die bloße Zuschreibung von Kennzeichnungen hinaus; sie ist ein fest verwurzelter Mechanismus, der dazu dient, Erzählungen zu formen, Geschichte(n) zu verflechten und Wahrnehmungen zu prägen. Die Umwandlung von ‚Chaussee’ zu ‚Heerstraße’ veranschaulicht diese verankerte Macht und zeigt, wie Namen, die mit historischer Last durchzogen sind, die gewaltvollen Strukturen weitertragen. Die Abschaffung der Bezeichnung ‚Heerstraße’ würde dagegen eine enorme Herausforderung bedeuten, die sich im Kampf um den Abbau festgefahrener Kontrollstrukturen und um die Rückgewinnung der in der Stadtlandschaft verankerten Narrative widerspiegelt.
“I said it was hard to make a gripping tale of how we wrested the wild oats from their
husks, I didn’t say it was impossible. Who ever said writing a novel was easy?"
Ursula K. Le Guin, ’The Carrier Bag Theory of Fiction’, 1986
Und dennoch, trotz des offensichtlichen Namens sind die Bremer Militärstraßen inmitten der Bevölkerung gut versteckt, sie sind unsichtbar, ausgelöscht und sehr präsent. Weshalb?
Zurück zum Thema der ‚rein patriotischen Gründe’ und zum deutschen Sprachpurismus. Während des Prozesses der Nationenbildung im 19. Jahrhundert förderten verschiedene europäische Nationen einen sprachlichen Nationalismus. Im Fall des Deutschen Reiches entwickelte sich diese ‚Abneigung gegen Fremdwörter’ zu einer ‚Abneigung gegen fremde Menschen’ und umgekehrt. Der Allgemeine Deutsche Sprachverein (ADSV) gründete sich 1885. Er verfolgte unterschiedliche Ziele, seine Hauptaufgabe bestand jedoch darin, die Reinigung der deutschen Sprache von unnötigen Fremdwörtern zu fördern, den Schutz und die Wiederbelebung des authentischen Charakters und des einzigartigen Wesens der deutschen Sprache zu unterstützen und damit das allgemeine Nationalbewusstsein sowie den Patriotismus im deutschen Volk zu stärken. Die Sprachpuristen sahen den Ersten Weltkrieg als Chance, den sogenannten ‚langjährigen negativen Einfluss’ fremder Elemente in der deutschen Sprache zu beseitigen.
Der Abschaffung des französischen Wortes und der Verwendung des deutschen Namens – der deutlich darauf hinweist, dass sich das Land im Krieg befindet – lag ein eindeutig propagandistischer Zweck zugrunde und diente dazu, patriotische Gefühle in der Bremer Bevölkerung zu wecken. Ich verstehe die Änderung der Straßennamen als eine Form der ‚stillen Propaganda’, die auf lokaler Ebene wirkte, die öffentliche Wahrnehmung subtil beeinflusste und die Kriegserzählung verstärkte. Die Umbenennung von Straßen vermittelte auf unterschwellige Weise die Vorstellung, dass die militärische und die zivile Sphäre miteinander verbunden waren, und förderte ein Gefühl der gemeinsamen Verantwortung für die Sache der Nation. Im Übrigen glaube ich, dass „die indirekte Konfrontation der Zivilbevölkerung mit Kriegsopfern psychologische Prozesse auslösen kann, die die Identifikation mit der eigenen Nation erhöhen und letztlich die Unterstützung für nationalistische Parteien stärkt.“[7] Ich würde behaupten, dass es in der Weimarer Republik üblich war, Militärstraßen zum Gedenken an den Ersten Weltkrieg umzubenennen. Und aus ebendiesen Praktiken schlagen nationalistische Parteien tendenziell Kapital. Der rechte Flügel nutzt das Nachkriegsklima für seine populistischen Narrative, vermarktet konfuse Identitätszustände und setzt diese in Wahlunterstützung um, indem patriotische Versprechen gemacht werden.
Die Entmilitarisierung Deutschlands, die mit dem Versailler Vertrag scheiterte, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Potsdamer Konferenz abgeschlossen. Beim Lesen der Protokolle der Nachkriegskonferenz fand ich diesen Teil besonders aufschlussreich: „alle[] anderen militärischen und halbmilitärischen Organisationen zusammen mit ihren Vereinen und Unterorganisationen, die den Interessen der Erhaltung der militärischen Tradition dienen, [werden] völlig und endgültig aufgelöst, um damit für immer der Wiedergeburt oder Wiederaufrichtung des deutschen Militarismus und Nazismus vorzubeugen“[8]. Es ist längst klar, dass der Entnazifizierungsprozess in Deutschland grundsätzlich fragwürdig ist und eher als mythologisches Konstrukt, denn als gesicherte historische Realität existiert. Eine ähnliche Skepsis gilt für den Entmilitarisierungsprozess, wenn bewusst oder unbewusst militärische Symbolik im Alltag fortbesteht, etwa in Form von Straßen mit militärischen Namen. Andrew Bickford schreibt: „Wenn es bei der Militarisierung sowohl um die Produktion von Waffen als auch um die Formung und Schaffung einer Bevölkerung geht, die positive Ideen und Werte, die mit Krieg und Töten verbunden sind, entweder annimmt oder zumindest unterstützt, dann reicht die bloße Zerstörung von Waffen im Nachhinein nicht aus, um eine Gesellschaft wirksam zu entmilitarisieren.“[9] Entmilitarisierung umfasst mehr als die bloße Zerstörung der Waffen; sie erfordert einen grundlegenden Perspektivwechsel. Die Waffen lediglich in Werkzeuge umzuwandeln, löst nicht das grundsätzliche Problem. Die Crux ist, die psychischen Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Strukturen, die eine gewalttätige Kultur fördern, zu demontieren. Es geht nicht nur um die physischen Objekte, sondern auch um die tiefsitzenden Einstellungen und Überzeugungen, die die Welt in Bezug auf Konflikte und Aggression prägen.
Am 15. März 1943, während des Zweiten Weltkrieges, gab es die Idee, die Schwachhauser Heerstraße umzubenennen. Der Vorschlag sah vor, den Namen in ‚Strasse der 6. Armee’ zu ändern, um eine deutsche Wehrmachtseinheit zu ehren, die für ihre Kriegsverbrechen, wie das Massaker von Bila Tserkva, bekannt war. Dieses Dokument im Bremer Staatsarchiv zu entdecken, überraschte mich nicht. Die mangelnde Verwunderung zeugt von einem festen Muster. Auch das Fortbestehen von Straßennamen, die mit der Militarisierung in Verbindung gebracht werden, zeigt, wie beständig solche Erzählungen sind.
Warum heißen die Straßen noch immer ‚Heerstraße’? Warum wurden die Straßen niemals umbenannt?
Ich habe ziemlich viel Zeit im Bremer Staatsarchiv verbracht, um zu recherchieren, oder besser gesagt, um Informationen über diese irgendwie mysteriösen Straßen und ihre Namen zu finden. Ich habe Akten und Schriften gelesen, die ich nie lesen wollte. Ich verlor mich viele Male in Ordnerstapeln voller Dokumente, was dazu führte, dass ich viele Fragen über das Wesen solcher Archive zu stellen begann, wie einseitig und eindimensional sie sind, ohne jegliche Gegenmaßnahmen in ihrer nahen Umgebung. Oft war ich von Leuten umgeben, die wussten, woran sie arbeiten und wie man das Archiv nutzt, mit ihm umgeht. Neben ihnen fühlte ich mich wie ein Amateur, oder eine Person, die einfach besessen von etwas ist und verzweifelt nach Antworten sucht (oder noch mehr Fragen). Einen Monat nach meinem allerersten Besuch im Staatsarchiv las ich Iman Mersal’s „Archives & Crimes”. Ein bestimmter Absatz half mir und machte mir gleichzeitig Angst: „‚Amateure‘, nennen wir sie: diejenigen, die von einem bestimmten Verbrechen besessen sind, die alles verfolgen, was damit zu tun hat, und die allen Ernstes Briefe mit ihren Schlussfolgerungen an Ermittlungsbehörden schicken. Hin und wieder verwickelt sich ein Amateurdetektiv so sehr in ein Verbrechen, dass er sich selbst als Verbrecher bei der Polizei meldet. Nach der Entdeckung des Verbrechens bleibt ihnen nur noch der Weg zur Lösung des unlösbaren Rätsels, indem sie sich selbst anstelle des Täters stellen.“[10]
Siegfried, der Hauptcharakter der Nibelungensage, missbraucht letztlich die Macht seiner Tarnkappe und begeht eine Reihe von Verbrechen. „Diese Taten schmälern nicht Siegfrieds strahlenden Ruf als populäres Symbol des jugendlichen Nationalhelden; im Gegenteil, die Unsichtbarkeit durch die Tarnkappe ist eines der wichtigsten Attribute, die ihm Privilegien eines Helden verleihen.“[11] Die Erzählung provoziert ein Nachdenken über die Gefahren der Verherrlichung von Handlungen, die durch Unsichtbarkeit möglich werden, ohne deren ethische Auswirkungen innerhalb des Heldenmythos zu berücksichtigen. Die schwer fassbare Natur der Unsichtbarkeit, die in das Gewebe des kollektiven Gedächtnisses eingewoben ist, liegt jenseits der heldenhaften Fassade oder des populären Beifalls. Sie lädt uns ein, über das Verborgene nachzudenken, und fordert uns auf, die Geschichten zu hinterfragen, die in der Dunkelheit verschwunden sind.“
Julius Schnorr von Carolsfeld, Siegfried überwältigt Brunhilde mit Hilfe seiner Tarnkappe , 1865
Bubu Mosiashvili (geb. 1997, in Tbilissi/Georgien) ist interdisziplinärer Künstler und erforscht in seinen Arbeiten blinde Flecken der Geschichte(n). Sein Fokus liegt auf verborgenen und weggeworfenen Erinnerungen und Fakten, die als Struktur „hinter den Kulissen“ für dominante Erzählungen dienen. Mosiashvili erwarb 2019 einen Bachelor-Abschluss in Kunst an der Staatlichen Akademie der Künste Tblissi und studiert derzeit Freie Kunst in der Klasse von Natascha Sadr Haghighian an der Hochschule für Künste Bremen. Seit 2019 war er an der Organisation des multidisziplinären Projektraums „MAUDI“ in Tbilissi beteiligt und seit 2023 leitet und organisiert er die „Library for Imaged Futures“, eine von Künstler:innen betriebene Bibliothek in Bremen.
___________
Quellen:
[1] Bremer Lexikon – Ein Schlüssel zu Bremen, Werner Kloos, 1977, p. 66.
[2] Paying for War: Experiences of Napoleonic Rule in the Hanseatic Cities - Katherine Aaslestad, Central European History, Vol. 39, No. 4 (Dec., 2006), pp. 641-675.
[3] Paying for War: Experiences of Napoleonic Rule in the Hanseatic Cities - Katherine Aaslestad, Central European History , Dec., 2006, Vol. 39, No. 4 (Dec., 2006), pp. 641-675.
[4] https://digitales-heimatmuseum.de/kattenturmer-chaussee-und-napoleon/
[5] The main reason for the disparity in the number of Heerstrasses observed historically and contemporaneously is Bremen's evolving cartography. Bremen, like many other Imperial Cities, has expanded its territory to include adjacent villages in addition to its core urban precincts over the course of its history. Following World War II, the municipality of Bremen's geographical administrative division was reorganized, and some streets were split into two separate streets with different names.
[6] Those Who Are Dead Are Not Ever Gone: On the Maintenance of Supremacy, the Ethnological Museum and the Intricacies of the Humboldt Forum, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, 2018, p. 42.
[7] American Political Science Review (2023), War and Nationalism: How WW1 Battle Deaths Fueled Civilians’ Support for the Nazi Party, p.1
[8] No. 1383 Protocol of the Proceedings of the Berlin Conference, https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1945Berlinv02/d1383
[9] Andrew Bickford - Demilitarization: Unraveling the Structures of Violence, "Demilitarization in the Contemporary World", edited by Peter N. Stearns, 2013, p.19.
[10] Archives and Crimes by Iman Mersal, 2022, pp. 6-7.
[11] Pseudoimbecility - A Magic Cap of Invisibility - Margaret Mahler-Schoenberger, p. 149.